01.08.2022 – 30.09.2022
Wer bin ich und wie kam es zur Hospitation?
Mein Name ist Stefan Strietzel, ich bin 28 Jahre alt und studiere an der FU Berlin Public History (MA) und Osteuropastudien (MA). Ich habe vom 01.08.2022 bis 30.09.2022 bei der Hedwig-Stiftung in Morawa hospitiert, die Arbeit der Begegnungsstätte bei internationalen Jugendbegegnungen unterstützt und zur Geschichte des Anwesens geforscht.

Seit meinem Bachelorstudium in Geschichte an der Universität Mainz beschäftige ich mich mit Polen und der Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg. Mein Schul-Polnisch konnte ich während zwei Erasmus-Semestern in Toruń aufbessern und lerne weiterhin. Seit Ende des Bachelors habe ich mich vermehrt mit der historisch-politischen Bildungsarbeit auseinandergesetzt. Während eines Freiwilligendienstes in der Gedenkstätte Majdanek in Lublin über Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) habe ich erste Erfahrungen bei Führungen und Workshops gesammelt. In meine Masterstudium arbeite ich an mehreren Praxisprojekten, darunter einer Online-Ausstellung zu Gedenkorten des Genozids an den Sinti und Roma Europas in Deutschland und Polen und Bildungsmaterialien zur Kriegsgräberstätte Maleme auf Kreta. Zuletzt habe ich die Ausbildung des dt.-fr. Jugendwerkes zum Interkulturellen Teamer abgeschlossen.
Als im Mailverteiler meines Studienganges ein Aufruf rumging, dass in Morawa jemand gesucht wird, der dt.-pl. Jugendbegegnungen betreut und die Geschichte des Ortes aufarbeitet, musste ich nicht lange überlegen. Ich hatte die Stiftung fünf Jahre zuvor zufällig auf einer Reise besucht und die Grande Dame Melitta Sallai kennengelernt.
Noch vor meiner eigentlichen Hospitation in Morawa ergab sich die Möglichkeit für einen ersten Testlauf und ein Kennenlernen. Vom 13.-17.06.2022 fand das vom DPJW geförderte dt.-pl. Projekt „Wege der Erinnerung“ mit Teilnehmenden aus Łódź und Lachendorf statt, das ich betreuen konnte. Neben Sprachanimation, Gruppenintegration und interkulturellem Lernen standen dort historisch-politische Workshops und Reisen zu nahegelegenen Erinnerungsorten an den Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg im Vordergrund. Das war eine gute Vorbereitung auf die Hospitation in Morawa und eine Möglichkeit, erste Ideen für neue Bildungsmaterialien zu sammeln.
Musikakademie

Während meines Aufenthaltes fanden verschiedene Begegnungen statt. Es begann mit einer deutsch- polnisch-ukrainischen Musikakademie für Jugendliche. Alle spielten Streichinstrumente, die meisten bereits auf hohem Niveau – wofür ich sehr dankbar war. Es wurde fast den ganzen Tag in unterschiedlichen Konstellationen von Einzelunterricht bis Konzertbesetzung geprobt. Hätte das in schiefen Tönen stattgefunden, wäre ich wahrscheinlich verrückt geworden. So hatte jeder Arbeitstag eine musikalische Untermalung. Tatsächlich waren die Jugendlichen so motiviert zu üben und für die Konzerte zu proben, dass wir sie zu anderen Aktivitäten wie Sprachanimation oder etwas Sport draußen immer wieder animieren mussten. Andere Programmpunkte wurden begeisterter angenommen: ein Tag im Freibad, der Zumba-Tanzkurs oder ein Besuch auf dem benachbarten Pferdehof. Mir ist zwar unklar, wie man auf die Idee kommen kann, Kinder und Pferde, zwei nur schwer kontrollierbare Wesen, zusammenzubringen – es ging aber alles gut, Pferde lieb, Kinder glücklich. Neben den Konzerten war besonders schön zu sehen, wie sich ganz informell kleine internationale Cliquen bildeten. Vor allem die etwas Älteren aus den drei Ländern verbrachten die meiste Zeit zusammen. Das gemeinsame Alter, gute Englischkenntnisse und die Musik verbanden mehr als die unterschiedlichen Herkunftshintergründe trennten.

Parkseminar
Die zweite größere Begegnung fand zwischen Landschaftsgartenbauauszubildenden aus Deutschland und Polen im Rahmen des Programms „Zusammen kommen wir weiter. Jetzt beruflich!“ statt. Zweimal im Jahr arbeiten sie für eine Woche gemeinsam an Projekten im großen Landschaftspark in Muhrau. Mal wird eine Bank gebaut, mal ein Zaun verankert, mal die Wege erneuert.


Die Integration der Gruppe war hier deutlich schwieriger und lief weniger selbstverständlich ab als bei der Musikakademie. Einmal war die Begegnung eine Woche kürzer und damit weniger Zeit um aufzutauen. Die verschiedenen Projekte von Beginn an haben dazu geführt, dass sich die Teilnehmenden mit ihren Freunden zusammentaten. Und nicht zuletzt hat man die unterschiedlichen Ausbildungssysteme in Deutschland und Polen bemerkt. In Deutschland ist die Ausbildung zum Landschaftsgärtner eine praktische, bei der einige schon zwei bis drei Jahre in Betrieben gearbeitet haben. In Polen ist die Ausbildung hingegen rein schulisch. Für manche war es die erste richtige Arbeitswoche in dem Bereich. Man hat den Unterschied schon von Weitem an der Kleidung erkennen können. Die Deutschen stiefelten in abgenutzten Latzhosen und Stahlkappenschuhen durch den Park, während viele polnische Teilnehmer:innen in Sportkleidung mit leichten Turnschuhen den Matsch mieden. Im Vergleich zur Musikakademie waren hier die Sprachanimation und Integrationsspiele sehr viel wichtiger für die Gruppendynamik. Sie haben einen Grundstein gelegt für spätere informelle Begegnungen am Abend.

Mein persönliches Highlight war der vorletzte Programmtag der Woche – er wurde mein erster Arbeitstag. Der abendlichen Einladung, doch einfach mal selbst das Gartengerät in die Hand zu nehmen, bin ich am nächsten Tag gefolgt. Ich tauschte Büromuff gegen frische Luft und Laptopbildschirm gegen Sonnenlicht ein. (An dem Büromuff bin ich durch meine Kaffeebechersammlung wahrscheinlich selbst schuld). Ich suchte mir ein relativ einfaches Projekt: Bäume fällen. Das Prinzip eines Landschaftsparks ist ein freier und weiter Blick. Man soll entfernte Orte sehen können und verleitet werden, dorthin zu spazieren. Außerdem entspricht es dem historischen Zustand der Parkanlage Ende des 19. Jhd. Die Natur arbeitet jedoch gegen die freien Sichtachsen. Überall wachsen Bäume und Sträucher. Es ist eine dauerhafte Arbeit, Jahr für Jahr es wieder runterzuschneiden. Dieses Jahr war die Idee, an einer Seite des Park die Randbepflanzung abzutragen. Bäume versperrten den Blick auf die umliegenden Felder und Landschaften. Ich bin nach wie vor erstaunt, was für große Bäumchen man mit einer kleinen Handsäge fällen kann. Mir wurden einige Dinge erklärt: Sicherer Stand, richtige Armhaltung, Keilschnitt, Sägetechnik und Baum fällt. Ich kam kurz in Versuchung, Historikerjob gegen Gärtnerarbeit einzutauschen. Der Muskelkater am nächsten Tag hat es mir wieder ausgetrieben.
Alltag
Neben der Arbeit mit internationalen Gruppen unterstützte ich den laufenden Betrieb in der Begegnungsstätte und Hotel. Ich arbeitete im Büro, empfing Hotelgäste, gab Informationen von A über B nach C weiter und war die erste Person am Telefon. Am Telefon machte ich über die zwei Monate eine deutliche Entwicklung hin. Hatte ich am Anfang noch deutliche Bedenken, mein Polnisch könnte zu schlecht sein und ich partout nicht verstehen, was die Person am anderen Ende von mir will, kamen dann die ersten Erfolgserlebnisse, dass mein jahrelanges Polnischenlernen doch etwas gebracht hat. Nach einigen Wochen waren die Anrufe Routine.
Recherchen zur Geschichte von Muhrau
Wenn keine anderen Verpflichtungen anstanden, konnte ich an meiner Hauptaufgabe arbeiten: die Geschichte von Muhrau erforschen. Ich werde sie hier nicht ausbreiten, nur ein paar Eckdaten. Im Mittelalter Besitz des Benediktinerinnenordens, dann ab 19. Jhd. preußischer Privatbesitz. Schloss und Park wurden vom adligen Industriellen Eduard Theodor von Kramsta erbaut. Seine Tochter Marie von Kramsta wurde Erbin und als reiche Mäzenatin über die Region hinaus bekannt. Sie vererbte es ihrem Großneffen Hans Christoph von Wietersheim-Kramsta. Dieser kämpfte im Ersten und Zweiten Weltkrieg, 1945 Flucht der Familie. Schlesien wurde polnisch, aus Muhrau wurde Morawa. Das Anwesen ging an einen staatlichen Landwirtschaftsbetrieb.
Nach dem Fall des Kommunismus bauten die Kinder von Hans Christoph Wietersheim-Kramsta im Schloss die Hedwig-Stiftung mit Begegnungsstätte und sozialem Kindergarten auf.
Für eine ausführlichere Beschreibung, siehe den von mir auf der Website geschriebenen Text! Zwei Monate sind keine lange Zeit, um diese 700jährige Geschichte aufzuarbeiten. Ich habe damit angefangen mir einen Arbeitsplatz einzurichten, relevante Literatur aus der Bibliothek zusammenzusuchen (natürlich weit entfernt von einer universitären Fachbibliothek) und die vorhandenen Quellen im Privatarchiv der Stiftung zu sichten.
Privatarchiv weckt vielleicht die falschen Erwartungen. Man könnte es auch „Haufen“ nennen. Einigen wir uns hier auf „Sammlung“.
Darin finden sich die unterschiedlichsten Materialien – von Originalbriefen von Marie von Kramsta über Fotos unbekannter Personen bis zu zusammenfassenden Beschreibungen über die Geschichte Muhraus – ohne Angabe eines Autors oder einer Quelle. Viele Informationen findet man auch im Internet über die Geschichte Muhraus. Die wenigsten davon sind gesichert oder geben Auskunft über ihr Zustandekommen. Ein wesentlicher Teil meiner Aufgabe war daher, bereits im Umlauf befindliche Erzählungen zu prüfen. Besonders das Internet ist voll mit solchen. Viele Fragen sind noch offen, brauchen Kontextualisierungen mit dem aktuellen Forschungsstand oder schlicht weitere Archivrecherchen. Anfragen laufen dazu in Deutschland und Polen, vom Bundesarchiv bis zum Stadtarchiv Lübbecke, vom Institut für Nationales Gedenken in Warschau bis zum Denkmalamt in Wałbrzych. Erste Kontakte konnte ich auch zu Lokalhistorikern knüpfen, die ehrenamtlich und aus Begeisterung die Geschichte der Region aufarbeiten.
Neue Website
Mit dieser Vorarbeit habe ich mich daran gemacht, eine erste Zusammenfassung der Geschichte von Muhrau zu erstellen. Diese findet sich auf der neuen Website der Stiftung. Der Text ist auf deutsch, polnisch und englisch zugänglich und für verschiedene Zielgruppen gedacht. Er soll einerseits als Werbung für historisch interessierte Gäste dienen. Andererseits bietet er eine erste Orientierung im Thema, was für historisch-politische Bildungsarbeit mit deutsch-polnischen und anderen internationalen Gruppen wertvoll ist. Neben dem Text für die Website sind einige Pläne für die Zukunft entstanden. Innerhalb des nächsten Jahres, während ich in Wrocław über Erasmus studiere, werde ich an Bildungsmaterialien und einer Ausstellung arbeiten.
Bildungsmaterialien
Für die Bildungsmaterialien habe ich einige Ideen gesammelt und ein erstes Grobkonzept geschrieben. Die Geschichte von Muhrau wird darin für dt.-pl. Jugendbegegnungen aufbereitet und mit Methoden des Interkulturellen Lernens verbunden. Viele Themen sind durch den russischen Angriff auf die Ukraine leider wieder aktuell geworden. Krieg, Flucht und Neubeginn, Grenzverschiebungen, nationale Identität – all diese Themen spielten in der Geschichte Muhraus eine wichtige Rolle. Angefangen bei der Familie Kramsta, die im 17. Jhd. als protestantische Glaubensflüchtlinge aus Böhmen nach Schlesien kamen, über ihre Nachfahren, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg auf Seite des Deutschen Reiches kämpften, bis zu den polnischen Familien, die heute in Morawa leben und teilweise aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten zwangsumgesiedelt wurden.
Ein Fokus wird auf der Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs liegen. Hier bieten sich viele Ansatzpunkte, z.B. ein Vergleich der Biografien des letzten deutschen Besitzers von Muhrau, Hans Christoph von Wietersheim-Kramsta, und den Mitgliedern des Kreisauer Kreises, der sich nur ein paar Kilometer entfernt traf. Oder das Thema NS-Raubkunst, das 1945 relevant wurde, als im Schloss Gemälde zwischengelagert wurden.
Dabei sollen sowohl die deutsche als auch polnische Perspektive zur Geltung kommen. Für den polnischen Neubeginn nach 1945 und die Zeit der Volksrepublik sind Interviews mit Zeitzeugen geplant.
Viele dieser Themen und Geschichten lassen sich nicht alleine vor Ort und durch die hiesigen Ereignisse erklären. Die Bedeutung von Muhrau muss daher in einen Kontext gesetzt werden. Für viele Menschen war Muhrau nur eine von mehreren Stationen in ihrem Leben. Migration und Reisen – freiwillig oder zwangsweise – spielt seit dem 20. Jhd. eine immer größere Rolle in der europäischen Geschichte. Und es ist ein Thema, das alle Jugendlichen in ihrem Alltag betrifft. Die Arbeit mit historischen und aktuellen Karten und den Biografien von Zeitzeugen soll zur Reflexion über politische Grenzregime und Migrationserfahrungen anregen.
Ausblick: Ausstellung, Jugendbegegnung und Masterarbeit
Neben den Bildungsmaterialen gibt es bereits weitere Pläne. Ich werde an einer Ausstellung zur Geschichte des Hauses arbeiten. Diese soll als Dauerausstellung im Schloss gezeigt werden und ein niedrigschwelliges Angebot für die Gäste des Hauses, sich selbstständig oder mit Führung der Freiwilligen der Geschichte von Muhrau zu nähern. Für nächstes Jahr laufen Planungen, die Bildungsmaterialien bei einer dt.-pl. Jugendbegegnung auszuprobieren. Und sobald ich aus meinen Auslandssemestern nach Berlin zurückgekehrt bin, will ich meine Masterarbeit zu einem Aspekt dieser Geschichte schreiben. Muhrau wird mich also noch länger begleiten.